Berlin, 11. Mai 2017 Wofür wünschen sich Pflegekräfte mehr Zeit? Das wollte die Diakonie von ihren Pflegekräften anlässlich des Internationalen Tages der Pflege am 12. Mai wissen. Unter dem Hashtag "#pflegezeit" hat sie die Wünsche und Forderungen ihrer Mitarbeitenden gesammelt und auf einer Social Wall veröffentlicht.
"Mit unserem Aktionstag wollen wir einen gesellschaftlichen Dialog über die würdevolle Versorgung von Menschen mit Pflegebedarf anstoßen", sagt Diakonie- Präsident Ulrich Lilie. "In den letzten Jahren haben sich die Aufgaben in der Pflege stark verändert. Die Menschen, die in unsere Pflegeheime kommen, werden immer älter, sind gebrechlicher und leiden häufiger an dementiellen Erkrankungen als früher. Die Pflege wird zeitaufwändiger und darauf müssen wir reagieren.
Die Personalschlüssel in der stationären Pflege müssen endlich an diesen neuen Bedarf angepasst werden", betont auch Maria Loheide, Vorstand Sozialpolitik der Diakonie Deutschland. Auch wenn die Politik das im Grundsatz schon erkannt und verschiedene Einzelmaßnahmen ergriffen habe, reiche das bei weitem noch nicht aus. "Politik und Gesellschaft müssen darüber ins Gespräch kommen, wieviel Personal im Pflegeheim benötigt wird, um alte Menschen gut zu versorgen", sagt Lilie.
Der Aktionstag Pflege wird von der Diakonie Deutschland, dem Deutschen Evangelischen Verband für Altenhilfe und Pflege in Kooperation mit epd-sozial veranstaltet.
Die Social Wall mit den Wünschen und Forderungen der Pflegekräfte finden Sie unter https://info.diakonie.de/kampagnen-und-aktionen/PflegeZeit
Hintergrund: Weniger als die Hälfte ihres Zeitkontingents verbringen Pflegekräfte im unmittelbaren Kontakt mit den Pflegebedürftigen. In der Zeit muss alles erledigt werden, was der pflegebedürftige Mensch braucht, z.B. Körperpflege, Unterstützung beim Essen, Unterstützung bei der Toilettennutzung, Hilfe bei der Auswahl der Bekleidung, Verabreichen von Medikamenten. Der Rest wird für den Kontakt mit Ärzten und Krankenhäusern, den Angehörigen, für Absprachen mit Kollegen und Vorgesetzten sowie Besprechungen und Übergaben, für die Anleitung von Mitarbeitenden, die Dokumentation und nicht zuletzt für das Vor- und Nachbereiten pflegerischer Tätigkeiten benötigt.
Regelmäßig finden Gesundheits- und Pflegekurs der Diakoniestation Idsteiner Land gGmbH in den Kirchengemeinden des Idsteiner Landes statt. Ein Elternteil, ein Ehepartner, ein Kind wird zum
Beispiel plötzlich zum Pflegefall – „ein Tsunami“, sagt Claudia Nikel.
Viele Angehörige sind überfordert
Viele Angehörige fühlen sich damit zunächst beziehungsweise auf Dauer überfordert und brauchen dringend Unterstützung. Die langjährige Krankenschwester ist seit 2008 in der Diakonie tätig, seit
2011 Pflegeberaterin und seit 2012 Pflegekursleiterin. Jährlich finden in den Räumlichkeiten der Diakoniestation Idsteiner Land jeweils zwei Pflegekurse (Frühling und Herbst) statt. Alle Kurse
werden von der BARMER-Pflegekasse finanziert.
Im Bermbacher Gemeindehaus begrüßte Pfarrer Markus Eisele 13 Teilnehmer zum ersten Abend des Gesundheits- und Pflegekurses über insgesamt fünf Abende, der für diese Kirchengemeinde bereits zum
dritten Mal angeboten wird. „Die Diakonie spielt eine große Rolle in den Gemeinden“, sagte er, denn es gehe um „gelebte Nächstenliebe“ und darum, „die Belastung miteinander zu tragen“. Sich Rat
zu holen, einen Ansprechpartner zu haben, sich „zu wappnen“, gehörten bei der kurzen Vorstellungsrunde zu den Anliegen der Teilnehmer. Da nach Absprache mit den Teilnehmern eine Verschwiegenheit
vereinbart wurde, könne man sich auch mal „Dinge von der Seele reden“, ergänzte Nikel.
Thema des ersten Abends war die Pflegeversicherung. Infolge der Neuerungen des 2017 in Kraft getretenen Pflegestärkungsgesetzes (PSG) II, das statt drei Pflegestufen nun fünf Pflegegrade
vorsieht, hat die Definition von „Pflegebedürftigkeit“ an Bedeutung gewonnen. Ihre Anerkennung und damit die Zuordnung eines Pflegegrads beruht auf acht Aspekten: Mobilität,
kognitive/kommunikative Fähigkeiten, Verhaltensweisen und psychische Problemlage, Selbstversorgung, Bewältigung und Umgang mit krankheits- und therapiebedingten Anforderungen, Gestaltung des
Alltagslebens und soziale Kontakte, außerhäusliche Aktivitäten und Haushaltsführung. In ihrer Präsentation gab Nikel einen ausführlichen Überblick über die komplexe Regelung der nach Pflegegrad
und -art (ambulant mit oder Einsatz eines Pflegedienstes, teilstationär, stationär) gestaffelten finanziellen Leistungen der Pflegeversicherung. Auch auf die Zusatz- und Entlastungsleistungen wie
etwa für Wohnraumanpassung, Kurzzeit-, Verhinderungspflege oder auch Tagespflege und Hilfsmittelzuschüsse (zum Beispiel für Pflegebett, Rollstuhl, Wannenlift) ging sie ein, ebenso wie auf
mögliche bezahlte und unbezahlte Freistellungen zu Pflegezwecken nach dem Familienpflegezeitgesetz.
Viele Teilnehmerfragen wurden beantwortet, für weitere Informationen und praktische Übungen könne man auch eine Schulung in der häuslichen Umgebung beantragen oder an den „Gesundheits- und
Pflegekursen in Idstein“ teilnehmen, bei der drei von insgesamt elf Terminen auf die Praxis ausgerichtet seien, ergänzte Nikel. Der Kurs hat bereits begonnen.
Marion Diefenbach
Der Punkt „Umgang mit Trauer, Tod und Stress“ war ein weiteres Herzensanliegen der 39 Mitarbeitenden. Im Flur der Diakoniestation im Nassauviertel hängt ein Tischchen an der Wand, auf dem ein
Buch aufgeklappt ist, darüber ein Bild, gemalt von Simone Michel. Im Buch stehen die Namen der verstorbenen Patienten. Manchmal hat eine Mitarbeiterin noch etwas dazu geschrieben. So gedenken die
Mitarbeiterinnen an ihre verstorbenen Patienten. „Denn manchmal kam man aus dem Urlaub oder vom dienstfrei“ und merkte erst später, dass ein Kunde gestroben war. Jetzt sorgen die Mitarbeitenden
dafür, dass jeder es sofort erfährt,“ erklärt Julia Ludwig- Hartmann. Auch eine Seelsorgerin steht den Mitarbeitenden zur Seite.
Mitarbeiterzufriedenheit im Leitbild verankert
Alles begann im Januar 2013, als der Vorstand den Mitarbeitenden das Versprechen gab, das Leitbild zu ändern. Denn bis dato enthielt es nur das Ziel der Kundenorietierung, das Wohl der
Mitarbeitenden kam noch nicht vor, höchstens als „personelle Ressource“ kritisiert Ludwig- Hartmann. Das hat sich rapide gerändert. „Der gesetzliche Arbeitsschutz wird bei der Zertifizierung
lediglich als Mindeststandard gesehen“, erläutert Julia Ludwig- Hartmann. Darüber hinaus griffen punktuell Maßnahmen der Gesundheitsförderung in Form von Schulungen zu gesundheitsgerechtem
Verhalten.
„Der Schwerpunkt der Aktivitäten liegt jedoch in der durchgängigen Verhältnisprävention: Die Mitarbeitenden entscheiden selbst, welche Gesundheitsthemen sie bearbeiten. So wurde die erwähnte
palliative Kultur in der Station geschaffen und neben dem „Gute- Laune- Montag“, die Kampagne „Denk an mich- Dein Rücken“ gestartet. Zudem sind ein kooperativer Führungsstil und
gesundheitsgerechte Arbeitsbedingungen die zuverlässigen Säulen im betrieblichen Gesundheitsmanagement“, betont Ludwig- Hartmann. Hierbei wird neben der Fragestellung „was macht krank“ immer die
auf das Wohlfühlen ausgerichtete Fragestellung „was macht ge- sund“ verfolgt.“ Konkret sieht das so aus, dass man permanent nach Lösungen sucht. In Sachen Rücken- fit“ gibt es nicht nur
Schulungen am Arbeitsplatz, auch kleine und große Hilfsmittel erleichtern das Arbeiten.
Niedriger Krankenstand, und kein Pflegenotstand
Hinzu kommt, dass die Dienstplangestaltung flexibel gehandhabt wird, so dass möglichst keiner zwölf Tage am Stück arbeiten muss. Zudem werden persönliche Wünsche oder Bedürfnisse der
Mitarbeitenden berücksichtigt. Kranke Mitarbeitende wissen um die volle Rückendeckung durch das Team. Der Krankenstand beträgt zwischen Null und drei Prozent erklärt die Geschäftsführerin
zufrieden, wodurch das „Dienstfrei“ zuverlässiger ist und häufiges Einspringen für kranke Kollegen entfällt.
Das Leitbild habe man mittlerweile längst erreicht. Deshalb möchte sie das Bild gerne erweitern, um Visionen und Ziele auszubauen und „mit neuem Leben zu füllen.“ Einmal im Jahr wird die Station
nun in punkto Gesundheitsmanagement geprüft. Das findet Ludwig- Hartmann gut. Das spornt an und motiviert. „Die Fluktuation der Mitarbeitenden ist gering, das Wort Pflegenotstand kennen wir nur
Hören- Sagen, das soll auch so bleiben“, freut sich nicht nur die Geschäftsführerin.
„Es ist das erste Mal, dass alle Bundestags- und Landtagskandidaten zusammen an einem Ort sind“, eröffnete Dekan Oliver Albrecht das Diakoniesymposium „An die Pflege denken“ in Niedernhausen. Geladen waren auch Angehörige, Vorsitzende der Kirchenvorstände und Mitarbeitende der kirchlichen Pflegedienste des Rheingau-Taunus-Kreises. „Es geht um das exakte Verstehen und Hinhören und nicht so sehr um das Erklären“, erläuterte Albrecht das Ziel der Veranstaltung. So kamen Angehörige, Leiterinnen von Diakoniestationen und Mitarbeitenden zu Wort und erklärten die Sonnen- und Schattenseiten des Dienstes an den Menschen.
Der Vorstandsvorsitzende des Diakonischen Werkes in Hessen und Nassau, Dr. Wolfgang Gern, sagte in seinem kurzen Impuls, dass 75 Prozent der Pflegebedürftigen in Hessen zu Hause gepflegt würden.
Hessen habe mit 24 Prozent die niedrigste Heimquote in Deutschland. Man müsse der Entwicklung einer älter werdenden Gesellschaft gerecht werden, mahnte er an. Und: Menschen sollten von der Pflege
leben können. Schon heute versuche die Diakonie sich gegen die Minutenpflege zu verwehren, in dem sie Zeit für Gespräche, Zuwendung, Seelsorge und Gebet aus den Fonds der Kirchensteuermitteln
nehme. Vor allem aber brauche man eine „neue Kultur des Helfens“. Dies würde das ganze Land freundlicher und wärmer machen.
Elke Müller, Pflegefachkraft in der Diakoniestation in Idstein, erzählte vom Alltag in der Pflege und dass sie sich manchmal einfach mehr Zeit wünsche, damit mehr Hilfe zur Selbsthilfe gelebt
werden könne. Roswitha Behnis, Leiterin der Diakoniestation Niedernhausen berichtete von einem Projekt, bei dem die Diakoniestation in die Betriebe gehe und Mitarbeitenden dort Beratung und Tipps
zum Thema Pflege gebe. Das komme gut an, denn „je höher der Wissensstand zum Thema, desto entlastender ist das für die Angehörigen“. Anschließend lud sie die Politiker ein, einmal einen halben
Tag mit einer Diakonieschwester mitzufahren. Da könne man den All-tag am besten miterleben. Spontan sagten Klaus-Peter Willsch (CDU) und Alexander Müller (FDP) zu, dies vor dem 22. September zu
tun.
Die Reaktionen und Ideen der Politiker waren unterschiedlich. „Sie haben mich für dieses Thema sensibilisiert“ sagte Cornelius Dehm von dem Bündnis 90/Die GRÜNEN. Martin Rabanus von der SPD, der sich an seine Zeit als Zivildienst-leistender erinnerte warb dafür „endlich den Überschriften, Taten folgen zu lassen.“ Benno Pörtner von DEN LINKEN, der Pflege aus dem persönlichen und beruflichen Umfeld kennt, warb für einen Kulturwandel im Land.
Das politische Ideenspektrum war breit: Elternzeit für pflegende Angehörigen, Erhöhung des Beitrages der Pflegeversicherung um 0,5 Prozent, mehr Prävention, Er-höhung der Spitzensteuersätze bis
hin zu einer Bürgerversicherung waren einige Vorschläge. Andere aber warnten davor, zu naiv an das Thema heranzugehen und betonten, dass alles finanzierbar bleiben müsse.
Beeindruckend war die Darstellung von Edwin Bastian, der erzählte, wie er erst alleine, später mit Hilfe der Diakoniestation Idstein und dann im Heim seine Frau ins-gesamt 12 Jahre gepflegt habe.
„Wenn wir die ehrenamtliche Familienpflege nicht hätten, wäre es schlimm“, hieß es aus der Politikerrunde. Dann sei das gesamte „System Pflege“ nicht mehr zu stemmen. Deshalb brauchten die
Angehörigen mehr Unterstützung, waren sich alle einig. Sichtlich beeindruckt zeigten sich alle Personen im Saal, vom Engagement der Mitarbeitenden der Diakoniestation. Der Einsatz und das
Herzblut, dass diese Menschen trotz des geringen Gehaltes und der „Minutenpflege“ zeigten, gebühre großen Respekt, so die Kandidaten für Bundes- und Landtag.
Weitere Informationen rund um das Thema „An die Pflege denken“ unter www.an-die-pflege-denken.de.